„In der Vielfalt der Kulturen bereichert der Glaubenssinn der Gläubigen die Kirche“, sagte der Papst bei einer Audienz an diesem Freitag. Besonders ging es Franziskus um die gelebte Erfahrung christlicher Familien. Unter Verweis auf sein nachsynodales Schreiben „Amoris Laetitia“ sagte der Papst, Ehe und Familie könnten ein „Kairos" - ein von Gott geschenkter rechter Zeitpunkt - für die Moraltheologie sein, um die Interpretationskategorien der moralischen Erfahrung im Licht des gelebten Glaubens in den Familien „zu überdenken“. Franziskus: „Zwischen Theologie und pastoralem Handeln muss ein fruchtbarer Kreislauf hergestellt werden. Die pastorale Praxis lässt sich nicht aus abstrakten theologischen Grundsätzen ableiten, ebenso wenig wie sich die theologische Reflexion auf die Wiederholung der Praxis beschränken kann.“

„Zwischen Theologie und pastoralem Handeln muss ein fruchtbarer Kreislauf hergestellt werden“

Das bedeute sicherlich nicht, dass die Moral des Evangeliums darauf verzichtet, die Gabe Gottes zu verkünden, fuhr der Papst fort. „Die Theologie hat eine kritische Funktion, eine Intelligenz des Glaubens, aber ihr Nachdenken geht von der lebendigen Erfahrung und dem sensus fidei fidelium – dem Glaubenssinn der Gläubigen - aus. Nur so kann die theologische Intelligenz des Glaubens ihren notwendigen Dienst an der Kirche leisten.“

Was ist der Glaubenssinn der Gläubigen?

Der „Glaubensinn der Gläubigen“ sorgt nach katholischer Auffassung dafür, dass das Gottesvolk in seiner Gesamtheit nicht fehl gehen kann. In seiner programmatischen Schrift „Evangelii Gaudium“ hatte Franziskus festgehalten, der Heilige Geist gewähre den Christen eine Weisheit, die es ihnen ermöglicht, die göttlichen Wirklichkeiten „intuitiv zu erfassen, obwohl sie nicht über die geeigneten Mittel verfügen, sie genau auszudrücken“ (119).

In der Theologie immer über den Tellerrand schauen

Das Publikum des Papstes bei dieser Audienz setzte sich aus Teilnehmenden an einem internationalen Kongress zu Moraltheologie zusammen, den die Päpstliche Universität Gregoriana und das Päpstliche Theologische Institut Johannes Paul II. für die Wissenschaften von Ehe und Familie gemeinsam ausrichten. Franziskus rief die „Theologinnen und Theologen aus vier Kontinenten“ auch dazu auf, immer den größeren Horizont jenseits der eigenen Fachdisziplin im Blick zu behalten. Das Nachdenken über Ehe und Familie brauche einen inter- und transdisziplinären Ansatz „schon innerhalb der Theologie, nicht nur zwischen Theologie, Humanwissenschaften und Philosophie“. Nur so nämlich gelange man zu den wirklich wichtigen Fragen, hob Franziskus hervor. „Die verschiedenen theologischen Ansätze dürfen nicht einfach nebeneinander oder gegenübergestellt werden, sondern sie müssen in einen Dialog gebracht werden, damit sie voneinander lernen“. Die eine große Frage der Moraltheologie zu Ehe und Familie formulierte der Papst mit klar evangelisierender Ausrichtung: „Wie können die christlichen Familien heute in der Freude und Mühe der ehelichen und geschwisterlichen Liebe Zeugnis von der frohen Botschaft des Evangeliums Jesu Christi ablegen?“

Papst warnt Theologen vor Rückwärtsgewandtheit

In freier Rede brachte der Papst am Ende der Audienz eine persönliche, kritische Anmerkung zur Rückwärtsgewandtheit in der Theologie und in der Kirche überhaupt ein. Er wolle noch etwas „hinzufügen, was der Kirche im Moment so weh tut: Es ist wie ein ,Rückwärtsgang´, entweder aus Angst oder aus Mangel an Einfallsreichtum oder aus Mangel an Mut“, sagte der Papst. Es sei zwar richtig, dass Theologie-Gelehrte und auch sonst die Getauften immer zu „den Wurzeln zurückkehren“ müssen, das sei aber kein „Rückwärtsgang“ in der Absicht, „das Risiko des Vorwärtsgehens zu vermeiden, das christliche Risiko, den Glauben weiterzutragen, das christliche Risiko, den Weg mit Jesus Christus zu gehen.“ Offen kritisierte der Papst „viele ekklesiastische – nicht kirchliche, nein, ekklesiastische – Figuren, die hier und da wie Pilze aus dem Boden schießen und sich als Vorschläge für das christliche Leben präsentieren.“ Auch in der Moraltheologie gebe es „eine Rückwendung mit kasuistischen Ansätzen, und die Kasuistik, von der ich dachte, sie sei schon sieben Meter tief begraben, taucht als Vorschlag - ein wenig verschleiert - wieder auf: ,Bis hierher kannst du, bis hierher kannst du nicht, hier ja, hier nein´.“ Für ihn und seine Generation damals sei Kasuistik – also das genaue Abstecken von Einzelfällen in allen Details – die Grundlage für das Studium der Moraltheologie gewesen, aber sie sei heute überwunden in einem „wahren Thomismus“ (nach Thomas von Aquin), dem Thomismus von „Amoris laetitia“, der bei den beiden Familiensynoden im Vatikan „ gut erklärt und von allen akzeptiert wurde“. Die „lebendige Lehre des heiligen Thomas“ bringe die Theologie dazu, „risikoreich, aber im Gehorsam voranzugehen. Und das ist nicht einfach. Hüten Sie sich bitte vor dieser Rückwärtsgewandtheit, die selbst für Sie als Moraltheologen eine aktuelle Versuchung darstellt.“ Dieser Beitrag wurde um 16 Uhr ergänzt.