Die Kirche unserer Zeit steht vor großen Herausforderungen. Die grundlegendste ist die des Glaubens und der Verkündigung Gottes und Jesus Christi in der heutigen Welt, die von tiefgreifenden kulturellen und anthropologischen Veränderungen geprägt ist. Aber es gibt auch spezifische Herausforderungen, die sich nachhaltig auf das Leben der Kirche und ihren Evangelisierungsauftrag auswirken. Eine der größten Herausforderungen der letzten Jahrzehnte ist der sexuelle Missbrauch von Minderjährigen durch Mitglieder des Klerus: er hat die Glaubwürdigkeit der Kirche untergraben und damit auch ihre Autorität und ihre Fähigkeit, das Evangelium glaubwürdig zu verkünden, in Frage gestellt. Er hat auf die Institution Kirche, auf die kirchliche Gemeinschaft als Ganzes, einen Schatten der Inkonsequenz und der Unaufrichtigkeit geworfen. Und das ist in der Tat ein ernstzunehmendes Problem.
Mit der Zeit und mit zunehmender Erfahrung – beginnend beim sexuellen Missbrauch von Minderjährigen, der die schwerwiegendste Form von Missbrauch ist –, haben wir gelernt, den Horizont zu erweitern, sodass wir heute von Missbrauch „schutzbedürftiger“ Personen sprechen, der nicht nur die Form des sexuellen Missbrauchs annehmen kann, sondern auch die des Macht- und Gewissensmissbrauchs, wie Papst Franziskus viele Male betont hat. Es muss auch daran erinnert werden, dass Missbrauch in seinen verschiedenen Dimensionen ein allgemeines Problem der menschlichen Gesellschaft ist. Es betrifft alle Länder und Kontinente und ist nicht nur ein Problem der katholischen Kirche. Im Gegenteil: wer objektiv und umfassend recherchiert, kann feststellen, dass es unterschiedliche Regionen, Orte und Institutionen gibt, in denen dieses Problem eine geradezu dramatische Verbreitung erlebt hat.
Gleichzeitig müssen wir natürlich gezielt die Kirche in den Blick nehmen, deren Glaubwürdigkeit hier ja wie gesagt in Frage gestellt wird. Die Kirche hat immer auf ihrer Lehre zum Sexualverhalten und dem Respekt der Person beharrt. Doch auch wenn wir sehen, dass dieses Problem nicht ausschließlich die Kirche betrifft, müssen wir es doch absolut ernst nehmen und verstehen, dass es im Zusammenhang mit dem Leben der Kirche und der Verkündigung des Evangeliums eine dramatische Tragweite hat.
Es handelt sich schließlich um einen Bereich, in dem es um die Tiefe und Wahrheit der Beziehung zu den Menschen geht, deren Würde geachtet werden muss. Als Christen und Katholiken sind wir stolz darauf, dass wir die Würde der Person als grundlegend anerkennen, da jeder Mensch ein Ebenbild Gottes ist. Andere zu missbrauchen, sie nicht zu respektieren und zu Objekten zu degradieren, ihrem Leiden gegenüber gleichgültig zu sein usw., ist ein Zeichen des Versagens in einem grundlegenden Punkt unseres Glaubens und unserer Sicht der Welt.
In der jüngsten Reform des Kirchenrechts gibt es einen Aspekt, der rein formal erscheinen mag, aber unter diesem Gesichtspunkt mehr als bedeutsam ist. Missbrauchsdelikte gehören zu den „Straftaten gegen Leben, Würde und Freiheit des Menschen“. Sie sind nicht nur „schändlich“ oder „des Klerus unwürdig“: es wird betont, dass die Würde des Menschen als Ebenbild Gottes aus kirchlicher Sicht in den Mittelpunkt gestellt und geachtet werden muss. Das ist von grundlegender Bedeutung. Die Tatsache, dass wir beschlossen haben, jeden Menschen, auch die Kleinsten und Schwächsten, sehr viel ernster zu nehmen, ihnen zuzuhören und sie zu respektieren, ist einer der wichtigen Punkte auf dem Weg der Bekehrung und Läuterung, wenn die Kirche unserer Zeit glaubwürdig sein soll.