Frau Kostka, Sie sind mit Josef Engling seit Jahren verbunden …
Ja, ich habe Josef Engling als Theologiestudentin an der Katholischen Universität in Lublin in Südpolen kennengelernt, als ich dort der Schönstattbewegung begegnet bin. Mich hat vor allem berührt, dass Josef Engling aus meiner Heimat, dem Ermland, dem früheren Ostpreußen, stammt. Das Interesse an meinem Landsmann ist schnell größer geworden. Nach und nach entwickelte sich daraus eine Aufgabe: 1997 übernahm ich die Verantwortung für sein Geburtshaus im polnischen Prosity. Dies führte zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit seinem Leben, da ich immer mehr die Notwendigkeit sah, ihn in der Umgebung seines ehemaligen Wohnortes, aber auch in der internationalen Schönstattbewegung bekannt zu machen bzw. seine Sendung tiefer und für heute zu erschließen. Es folgten Workshops, Pilgerfahrten und Veröffentlichungen und mein Leben wurde mehr und mehr mit Josef Engling verbunden.
Für Josef Engling läuft seit längerem ein Seligsprechungsprozess. Wie waren die Etappen dieses Prozesses bis jetzt?
Der Prozess wurde am 4. Oktober 1952 in Trier eröffnet, kurz nachdem der Gründer Schönstatts ins Exil nach Milwaukee gehen musste. Nach der Trennung des Schönstattwerkes von den Pallottinern 1964 hat der Prozess zunächst geruht, bis er dann im Jahr 2000 im Einvernehmen zwischen Pallottiner und der Schönstatt-Bewegung erneut aufgenommen worden ist. Die Verantwortung trägt dabei die Gemeinschaft der Pallottiner, da Josef Shüler im Studienheim der Pallottiner in Vallendar war. In den Jahren 2005 bis 2008 wurde ein sogenannter Ergänzungsprozess in der Diözese Trier geführt, um den Ruf der Heiligkeit feststellen zu können, was mit einem Dekreto di Validità am 2.4.2009 geschah. Seit 2013 ist der Prozess in der „römischen“ Phase. Sowohl die historischen wie auch theologischen Fragen wurden von entsprechenden Kommissionen geklärt. Die Frage des Soldat-Seins des Kandidaten im Moment seines Todes, sollte in jedem Fall individuell und eigens untersucht werden. Für längere Zeit war diese Frage eine Hürde, die nicht überwunden werden konnte. Inzwischen ist aber auch diese Frage kein grundsätzliches Hindernis mehr für eine Seligsprechung. Der Prozess stand im Frühjahr 2021 schon kurz vor dem Abschluss der ersten Phase, d.h. vor der Zuschreibung des Titels: Venerabile, Diener Gottes. Die im Frühjahr 2021 neu gestellten Fragen sind in gewissem Sinne deshalb überraschend.
Welche Fragen wurden vom Dikasterium für die Seligsprechung neu gestellt?
Die Fragen beziehen sich auf den Umgang Josefs mit den Schwierigkeiten seines Charakters. Dazu gehört sein Ringen mit seinen Stimmungsschwankungen. Engling neigte zur Melancholie und musste sich oft aus der Trägheit aufraffen. Die Kardinäle wollen Klarheit erlangen, ob er aus religiösen Motiven den Kampf gegen diese Charakterschwäche aufgenommen hat oder aus menschlichen, rein willensmäßigen (volitiven) Motiven, ja eventuell aus einem gewissen Starrsinn heraus.
Als zweites wird die Frage gestellt, ob eine Persönlichkeit, die eine Neigung zu „leichten Süchten“ zeige (u.a. geht es um seine Neigung zum Kartenspiel) der Jugend als Vorbild vorgestellt werden kann, so die Kardinäle.
Des Weiteren geht es um die Erfüllung seiner Pflichten im Rahmen des militärischen Dienstes. Es wird gefragt, ob er diesen tatsächlich immer pflichtmäßig, wie es sich für einen Soldat gehört, erfüllt habe und den Befehlen gefolgt sei. Dass er – wie es den Anschein habe – nicht immer auf sein Äußeres geachtet habe, ist Quelle für die Zweifel der Urteilenden. Und schlussendlich kann man nach wie vor nicht eindeutig feststellen, ob Josef Engling im Rahmen seines Militärdienstes jemanden getötet hat oder nicht. All diese Fragen münden in der generellen Frage, ob seine Person tatsächlich eine Relevanz für die heutige Jugend haben könne.
Wie schätzen Sie diese Fragen ein? Lassen sie sich zufriedenstellend beantworten? Und welchen Anruf sehen Sie hinter dieser Infragestellung der Person Englings?
Mir scheint, dass wir diese Fragen als Chance begreifen sollten, Josef Engling vertieft und auch neu zu entdecken. Vielleicht wartet gerade die heutige Jugend auf so ein Vorbild. Für mich jedenfalls sind die Fragen Anlass, diese wichtige Mitgründergestalt Schönstatts tiefer zu ergründen. Wir müssen uns mit ihm eventuell neu auseinandersetzen. Schon eine erste Beschäftigung mit den Fragen überzeugte mich, dass sein Leben ein Beispiel dafür ist, wie man mit Unzulänglichkeiten des eigenen Charakters umgehen, und sie – im Liebesbündnis mit Maria – schlussendlich überwinden kann. Die an seinem Lebensbeispiel beobachtbare bewusste, religiös motivierte Persönlichkeitsentwicklung an der Hand Gottes und der Gottesmutter kann gerade mit dem sichtbaren Bemühen für junge Menschen ein wertvolles Beispiel sein. Ihn hat die Liebe motiviert, vor allem die Liebe zu Maria. Aus dieser Liebe heraus hatte er die Kraft, sich seine Schwächen zunächst einzugestehen, sie dann anzugehen und schließlich zu überwinden. Vielen Schönstättern und Freunden Josef Englings ist das Stichwort „Remonville“ bekannt. Josef zeigt hier, wie er aus einer Niederlage aufstehen kann, um neu zu beginnen – in einer äußerst ungünstigen Umgebung und unter den schwierigen Umständen des Krieges. Dieses Bespiel wurde vielen Menschen aus verschiedenen Generationen eine Hilfe. Gerade die heutige Jugend (aber nicht nur sie!) sieht sich mit diversen Abhängigkeitserfahrungen und -gefahren konfrontiert.
Auch in der Frage seines Umgangs mit seinen Stimmungsschwankungen, die er ganz bewusst angeht, zeigt sich, dass Josef Engling da im Sinne der Selbsterziehung einen originellen Weg gefunden hat, um diesen Schwankungen ganz bewusst die Stirn zu bieten, und das als sehr junger Mann! Dies tat er – wie auch beim Überwinden anderer Schwierigkeiten – in inniger Verbindung mit der Gottesmutter Maria – auf ihre Hilfe vertrauend, aber viel mehr für sie und für das werdende Schönstattwerk als eine neue geistliche Gemeinschaft, als einen göttlichen Aufbruch, den er mit allen Sinnen erleben durfte.
Und die Frage, ob er je geschossen und getötet hat?
Diese Frage kann nur aus der Gesamtheit seines Lebens und dessen was er selbst schriftlich hinterlassen hat, beantwortet werden. Seinen Militärdienst hat er bewusst als Mitglied der Marianischen Kongregation geleistet. Er hat sich selbst und andere Sodalen der MC innerlich für diese Zeit vorbereitet. Er wollte diese sehr herausfordernde, ja äußerst gefährliche Zeit zum Wachstum in der Heiligkeit bewusst nutzen. Das war sein Ziel. Davon hat er nie einen Rückzieher gemacht, im Gegenteil! Immer wieder gibt er sich Rechenschaft und nimmt eine Evaluation dieses Zieles vor. Dies war sein Haupthorizont. Und das war zudem kein Selbstzweck. Für ihn war das der Weg, Schönstatt mit aufzubauen. In seinen Tagebüchern können wir nachlesen, wie die ersten Gruppen entstanden sind. Ob er jemals bewusst auf einen Menschen geschossen hat, dazu fehlen in seinen Aufzeichnungen jegliche Hinweise. Für jemanden, der andere Erlebnisse so detailliert und „zart empfindend“ in seinem Tagebuch festhält, ist das Fehlen jeglicher Hinweise auf die moralische Auseinandersetzung mit der Tötung eines Menschen, wenn auch eines Feindes, auch ein Indiz, eine Aussage!
Meines Erachtens kann diese Frage nur aus der Gesamtheit seiner Einstellung, seiner geistlichen Praxis, seiner Aussagen und den Aussagen der Zeitzeugen beantwortet werden. Hier soll, wie gerade schon angedeutet, die Tatsache seines zarten Gewissens bei der Antwort wegweisend sein. Josef hat sich freiwillig für Kleinigkeiten eines Fehlverhaltens jeweils eine Buße von seinem geistlichen Vater, Josef Kentenich, erbeten. Er hat häufig gebeichtet und wann immer es möglich war, die heilige Kommunion, die ihm sehr „heilig“ war, empfangen. Sein gesamtes Leben hat er versucht auf einem sehr hohen spirituellen Niveau zu leben. Auf diesem Hintergrund ist es schwer vorstellbar, dass er über ein solches Erlebnis, wie die Tötung eines Menschen, nie etwas festgehalten hätte. Wenn er davon schreibt, dass er Tote oder Verwundete vom Schlachtfeld geholt hat und dies freiwillig, dann tut er das mit einer hohen religiösen und menschlichen Sensibilität, ja Qualität. Auch das wäre bei dieser Fragestellung zu berücksichtigen.
Und wie sehen Sie die generelle Frage, ob er ein Vorbild für die Jugend sein kann?
Für mich geht es hier um drei Stichpunkte, die ich so benennen möchte. „Wachstum in der Gottesnähe“; „Mystiker im Alltag“ und „Christ der Zukunft“.
Gerade in den letzten Monaten seines Lebens beobachten wir bei Josef Engling eine fühlbare Gottesvereinigung. Am 3.6.1918 bietet er der Gottesmutter sein Leben an für die Ziele, die sie mit Schönstatt vorhat. In der folgenden Zeit lebt er bewusst aus dieser Weihe. In den grausamen Verhältnissen des Krieges zeigt er uns, wie man als Christ sogar unter extremen militärischen Umständen sein religiöses, spirituelles Leben aufrechterhalten, ja entfalten kann. Der Krieg in der Ukraine veranschaulicht uns in etwa seinen Alltag. Als junger Mann, der Priester, Schriftsteller und Missionar werden möchte, wird er von heute auf Morgen – weil der Krieg ausbricht – zum Soldaten, ohne es jemals vorgehabt zu haben. Es ist bewundernswert, wie er mit diesen nicht freiwillig gewählten Lebensumständen umgeht.
Er kann in vielem Vorbild sein: in der konsequenten Entfaltung seiner Persönlichkeit, in der Strukturierung des Tages selbst unter widrigen Umständen, in der Kreativität und Konsequenz seines missionarischen Einsatzes für den Glauben, … Er kann für junge Menschen Vorbild sein, die sich für den Aufbau geistlicher Gemeinschaften einsetzen, für Menschen, die sich für den Aufbau der Kirche vor Ort engagieren wollen und auch für Personen, die Leitungsverantwortung, Leadership übernehmen möchten oder innehaben.
Seine Marienliebe ging sehr weit – auch diese ist erst noch neu zu erforschen. Dabei zeigt sich besonders die Einheit mit der Christusliebe, die seine Marienliebe ausgezeichnet hat. Ich würde in Josef Engling auch ein Beispiel für einen sehr gut vernetzten Menschen im Sinne von tiefen Bindungen sehen: mit der Familie, mit Eltern und Geschwistern, mit den Kollegen und in der Verantwortung für sie; mit seinen Lehrern und mit seinem geistlichen Vater, dessen Begleitung ihn getragen und der ihm gleichzeitig Freiheit gelassen hat.
Ich habe den Eindruck, dass wir vor der Herausforderung stehen, einen neuen Blick auf Josef Engling zu werfen. Und vielleicht sind die gestellten Fragen – vorsehungsgläubig gesehen – ein Ansporn dazu.
Biographisches
Dr. Alicja Kostka, Mitglied des Schönstatt-Frauenbundes. 2006 Promotion in Moraltheologie an der Katholischen Universität Lublin über das Frauenbild bei Pater Josef Kentenich. 2008-2020 Dozentin im Priesterseminar St. Lambert, Lantershofen, 2019 Studium für Postulatoren an der Pontifica Universita Urbaniana, Vatikan, 2022 Studium der Archivistik an der Schule für Archivistik, Paleographie und Diplomatie im Vatikan. Seit 2020 Mitglied der Internationalen Forschungsgruppe in der Causa Kentenich. Außerdem Konsultantin im Beirat des Seligsprechungsprozesses von Franz Reinisch.