Die Herausforderung Frau zu sein

Pierina Monte Riso | Argentinien

Im Jahr 2020 erlebten wir mit großer Freude das 100-jährige Jubiläum des Anfangs der Frauenbewegung in Schönstatt. Wir reflektierten über das Wesen und die Sendung der Frau aus verschiedenen Perspektiven: historisch, spirituell, theologisch, sozial, kulturell usw. Diese Themen haben uns viele Erkenntnisse gebracht, aber auch Fragen aufgeworfen: Sind die Themen, die Pater Kentenich im letzten Jahrhundert angesprochen hat, noch heute gültig? Wie können wir das Ideal der Frau in der heutigen Zeit leben? Vor welchen Herausforderungen stehen wir?

frau sein heute
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Herausforderungen heute und immer

Zunächst müssen wir unterscheiden, es gibt ständige Herausforderungen, zu allen Zeiten und in allen Kulturen, die sich auf das überzeitliche Bild der Frau (Seinsordnung) beziehen, und es gibt andere, die auf die Fragen, Bedürfnisse und Sehnsüchte einer bestimmten Zeit antworten. Die heutige Zeit stellt wie nie zuvor die Frage nach der Frau und steht in gewisser Weise vor einem Rätsel: Frauen sind zum Thema geworden, in manchen Fällen zu einem Symbol. Was bedeutet es, Frau sein? Was ist der Beitrag der Frauen? Frauen wollen heute nicht mehr unbemerkt bleiben, sie wollen berücksichtigt werden. Die traditionellen Ansichten über Frauen werden abgelehnt. Feministische Bewegungen, obwohl die sehr unterschiedlich sind, versuchen, dieses Bewusstsein zu stärken, zu fordern.

Die Frau, ein Ebenbild Gottes: Wiederentdeckung der Gottesebenbildlichkeit

Die Wurzel des weiblichen Seins ist nach Pater Kentenich eine kindliche Haltung, die weit davon entfernt ist, ein schwaches, passives, unterwürfiges und abhängiges Wesen darzustellen, sondern auf die Größe und Stärke DER Frau verweist, die ihr Leben frei auf die liebevolle Führung Gottes gründet, der die Geschicke der Welt lenkt. Eine Frau ist dann voll und ganz Frau, wenn sie Kind werden kann, die in zutiefst in Gott gründet.

Die Frau wird von Gott her verstanden, und Gott wird von der Frau her neu verstanden. Das Evangelium Jesu Christi, dessen Zentrum die Offenbarung des Vaters ist, wird durch die Frau verständlicher und lebendiger, weil in ihr die Kindlichkeit als grundlegende Lebenshaltung eingeschrieben ist: Frau zu sein, heißt Kind sein, und andere zum Vater zu führen (Mutterschaft).

Kindlichkeit ist jedoch ein dynamischer Prozess. Das heißt, wir sind Kinder Gottes, aber gleichzeitig befinden wir uns immer auch auf dem Weg der „Kindwerdung“. Das Ideal ist, dem Sohn Gottes immer ähnlicher zu werden, die gleiche Gesinnung wie er zu haben (Phil 2,5). Um das Ideal der Kindlichkeit zu leben, ist es daher wichtig, unser Bild von Gott zu überdenken. Wenn wir an einen Gott glauben, der nur menschliche Erfolge belohnt, der verbietet und verurteilt, oder der ein fernes, ebenso transzendentes wie unerreichbares Wesen ist, dann wird es für uns schwierig sein, die authentische kindliche Einstellung zu verstehen. Diese Kindlichkeit zieht die Kraft der barmherzigen Liebe herab und hilft, die eigenen Grenzen anzuerkennen und zu akzeptieren.

(Selbst)Wertschätzung der Würde der Frau: keine Notwendigkeit, Stereotypen zu entsprechen

Was ist die Herausforderung der Kindlichkeit für Frauen heute? Ist sie nur eine vorübergehende Entwicklungsstufe oder ein Prozess zum Wachstum und zur Unabhängigkeit? Kann sie alle Lebensabschnitte umfassen?

Pater Kentenich ist überzeugt, der größte Grad der Vollendung, die wir anstreben können, ist die volle, reife Kindlichkeit. Sie bedeutet die Anerkennung der Würde der Frau, weiß aber auch um ihre Schwächen und ihre Abhängigkeit, und ringt um eine vertrauensvolle Hingabe an Gott in allen Lebensumständen. Es bedeutet ein totales Ja zu Gott, zu allem, was er uns zugedacht hat. Es ist ein lebenslanger Prozess, es ist der Weg, den Maria gegangen ist.

Die Suche nach der Anerkennung des Wertes und der Würde der Frau ist zu allen Zeiten eine Herausforderung gewesen, auch wenn es oft bei der Suche nach äußerer Anerkennung blieb. Es ist vielleicht nicht die größte Herausforderung für Frauen heute, dass die anderen – Männer oder die Gesellschaft – sie anerkennen (in ihrer Originalität, ihren Rechten usw.), sondern auch, dass die Frauen sich selbst kennen, akzeptieren und schätzen lernen.

Die Frau braucht die Gewissheit, von einem Du geliebt zu werden, das ihr keine Bedingungen stellt, um dieser Liebe würdig zu sein. Die Liebe und Erwählung durch Gott sind die ursprüngliche Quelle der kindlichen Würde, nicht eigene Verdienste oder menschliches Tun.

Diese Kindlichkeit, die sich als geliebtes Kind des Vaters weiß, schenkt der Persönlichkeit eine tiefe Freiheit. Sie befähigt die Frau, authentisch und original zu sein, ohne zu versuchen, in Formen zu passen, die von der Mode des Augenblicks diktiert werden, die vermassen und entpersönlichen.

Anerkennung der eigenen Kleinheit vor Gott: Gott liebt uns, nicht „trotz“…

Es ist eine große Herausforderung, in einer Gesellschaft, die vom Bedürfnis nach Erfolg bestimmt ist, das Erkennen unserer Grenzen, unseres Versagens und unserer Kleinheit zu lernen. Pater Kentenich nimmt dieses Thema sehr ernst. Er bekräftigt, dass „meine Armseligkeit“, die anerkannte Armseligkeit, die mit Vertrauen anerkannt wird, der größte Titel ist, der uns das Recht auf die barmherzige Liebe des Vaters gibt. Aus dieser Perspektive führen uns Schwächen und Begrenzungen, die wir kennen und anerkennen, zu Gott und öffnen uns für seine Barmherzigkeit, um ihn in unserem Leben wirken zu lassen.

Heutzutage stehen Frauen in einen ständigen Kampf mit sich selbst. Auf der einen Seite haben sie große Ideale, auf der anderen Seite viele Enttäuschungen, die sie in ihrer Sehnsucht nach dem Großen, dem Hohen entmutigen. Papst Franziskus stellt in seinem apostolischen Schreiben Patris corde feststellt: „Allzu oft denken wir, dass Gott sich nur auf unsere guten und starken Seiten verlässt, während sich in Wirklichkeit die meisten seiner Pläne durch und trotz unserer Schwachheit realisieren.“ Pater Kentenich würde hinzufügen: nicht trotz, sondern gerade wegen unserer Schwäche. Durch unser Kleinsein zeigt sich die Größe und das Wirken Gottes in unserem Leben deutlicher, ebenso die Wirklichkeit, dass wir  Werkzeuge sind in seinen Händen. Das Anerkennen unserer Grenzen macht uns nicht schwach, sondern stark, so wie der heilige Paulus, der sich seiner Schwächen rühmte (2 Kor 12,9).

Die Anerkennung ihrer Sendung

Wenn die Frau sich selbst erkannt und angenommen hat, sowohl in ihrem Kleinsein als auch in ihrer wirklichen Würde, steht sie vor der großen Herausforderung, ihre persönliche und gemeinschaftliche Sendung in der Welt zu entdecken. Sie ist für etwas Großes geschaffen: Seele zu sein, Leben in die Gesellschaft und Kultur zu bringen.

Zu allen Zeiten wurde die Lebensnähe der Frau hervorgehoben, da sie eine besondere Sensibilität hat, um die Grenzen des Menschseins, die konkrete Realität und individuelle Situationen (Schmerz, Mangel, persönliche Sehnsüchte …) zu verstehen. In einer Kultur, die von Erfolg, Produktivität und Leistung geprägt ist, sind die weiblichen Werte ein Weckruf gegen Exzesse und verlangen ein soziales, kulturelles und wirtschaftliches Korrektiv, um uns nicht zu entmenschlichen. Die Frau repräsentiert ein Plus an Menschlichkeit, das unverzichtbar ist, um die Grenzen des Fortschritts und einen größeren existenziellen Realitätssinn zu gewinnen.

Aus dieser Perspektive drückt Papst Franziskus aus, „es ist notwendig, die Räume für eine stärkere weibliche Präsenz zu erweitern“ (19.08.2013), wir könnten sagen: marianischer, erfahrungsbezogener, organischer werden.

Die Gesellschaft braucht Frauen, die „stark und würdig, schlicht und mild, Liebe, Fried und Freud verbreiten“ (Himmelwärts, Werkzeugslied, 609). In diesem Sinne erkennen wir die Notwendigkeit, sich in einem Dienst an ein Du zu verschenken. Dienen wird oft als eine Form der Sklaverei angesehen, obwohl es genau das Gegenteil ist: eine Form der Selbsthingabe und Freiheit nach dem Bild Christi (Joh 10,18; Mt 20,28). Der Dienst ist eine Verwirklichung des Evangeliums nach dem Vorbild der kindlichen Selbsthingabe Jesu und Marias.

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Wachsen und reifen in Beziehungen

Die weibliche Identität wächst und reift nicht in erster Linie aus der Reflexion, sondern aus persönlichen Erfahrungen und Bindungen, in denen sich das eigene Wesen offenbart und bestätigt.

Die Frau, wie auch der Mann, wachsen und reifen entscheidend in Beziehungen (Kultur). In authentischen persönlichen Beziehungen findet die Frau zum Sinn ihres Lebens, sie versteht ihre verborgenen Sehnsüchte. Das Fehlen tiefer und gesunder Bindungen macht sie unsicher in ihrer Identität, bis sie schließlich unfähig wird, ihrem eigenen Wesen gemäß  zu reagieren.

Hand in Hand mit Maria

In diesem Panorama der Suche, der lebensmäßigen Erkenntnis, der Selbstwertschätzung der Frau kann die Antwort auf die Frage nach der weiblichen Identität vom Leben selbst kommen; vermittelt von konkreten Personen, die die Fülle des Lebens als Frau repräsentieren, verkörpern und ausstrahlen, also Frauen, die als unmittelbare Referenz für andere Frauen dienen, in denen sich die Sehnsüchte vieler anderer bündeln.

Auf der übernatürlichen Ebene ist das Referenzmodell schlechthin Maria. Sie verkörpert einen Lebensentwurf, der sich in Formen von Lebensfülle in konkreten Personen widerspiegelt. Sie ist das treue Kind des Vaters und die Begleiterin und Mitarbeiterin Jesu bei all seinem Wirken. Sie lehrt uns den Weg der Kindlichkeit, der Abhängigkeit, des Dienens und der Ganzhingabe. Mit anderen Worten: Die Frau heute findet ihre originelle Persönlichkeit durch vorgelebte Heiligkeit, die in anderen Personen sichtbar und verstanden wird. Wenn eine Frau ein solches Vorbild findet, dauert es nicht lange, bis ihr Herz glüht und sie sich danach sehnt, in der gleichen geistigen Welt zu leben.

Eine große Chance und eine große Herausforderung

Unsere heutige Zeit ist eine große Chance für die Frau, voller Herausforderungen.  Sie kann nicht so weiterleben wie bisher, sondern muss entschiedener in das öffentliche, soziale, kulturelle, produktive Leben usw. eingreifen und vor allem mit mehr Entschlossenheit und Wagemut ihre Wünsche, ihre Ideen, ihre Projekte einbringen, die eine Ausstrahlung ihres Wesens und ihres Ideals sind. Sie muss alle Bereiche des Lebens durchdringen, entsprechend ihrem Beruf, ihrer Berufung und ihrem Lebensstand.

Die Erfahrung einer in Gott gegründeten Kindlichkeit wird der Frau die Authentizität ermöglichen, nach der sie sich sehnt, die Freiheit, nach der sie verlangt, die innere Gewissheit des Herzens, dass sie geliebt und akzeptiert wird, so wie sie ist. Es ist der Weg einer reifen spirituellen Kindlichkeit: ein Weg, den wir leben und mit Überzeugung weitergeben wollen.

 

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Pierina Monte Riso, Argentina – Autorin

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