Es war für mich ein unvergessliches Erlebnis: Ich hatte mein großes Aufnahmegerät mitgenommen, das ich von meiner früheren Tätigkeit her besaß, musste mich ziemlich nahe ans Rednerpult setzen, um das Mikrofon aufstellen zu können und konnte ihn jetzt da ganz nahe erleben: dieser Mann, der vor gut 20 Jahren noch Häftlingskleider getragen hat, und nachher so viel Leid von der Kirche, ja Unrecht hat erfahren müssen, kann so von der Liebe Gottes sprechen! Das war für mich sehr eindrücklich. Und dann die Deutung des Konzils, die bewegende Deutung der Situation von der Kirche.
1966 war ein Jahr nach dem Konzil. Und da war ja die Kirche in einer ungeheuren Aufbruchsdynamik. Da hat man gedacht: Jetzt wird alles anders! Jetzt geht’s vorwärts! Und wir, die wir ja gerade die Heimkehr von Pater Kentenich aus dem Exil erlebt hatten, haben das natürlich aus mehrfachem Grund gehofft: Jetzt wird alles anders und besser.
Und er deutet dann die Situation, und das war für mich schon eben eine erste fundamentale Orientierung für den weiteren Weg. Er hat ja alles, was das Konzil erstrebt hat, vollauf bejaht, als er sagte: Aggiornamento (Anpassung an die heutige Welt), das ist das Wirken des Heiligen Geistes. Dann hat er aber auch gesagt: Ja, aber wir müssen auch wach sein, dieses Ringen um Erneuerung könnte auch zur Neuerungssucht werden. Das kann auch von einem anderen, vom weniger guten Geist missbraucht werden. Das war für mich eigentlich eine fundamentale Orientierung.
Bergwanderung: durch den Nebel ins Licht
Wie er uns die Situation gedeutet hat, das war für mich schon eine erste fundamentale Orientierung für den weiteren Weg. In der Art, wie er das tat, kam mir als Grundbild: Es war für mich so wie bei einer Bergwanderung, wenn man unten im Tal noch im Nebel startet, und man geht stundenlang hinauf und hofft, dass man durch das Nebelmeer hindurch ans Licht kommt. Im Flugzeug kann man das natürlich in zwei Minuten haben. Aber bei einer Wanderung, wenn man zuerst stundenlang durch den Nebel geht und dann da oben ans Licht kommt, und den blauen Himmel, die Sonne, die Wärme, den Blick in die Berge bekommt, das ist etwas anderes. Und das war für mich das Grundbild, was mich bei diesen Exerzitien mit Pater Kentenich verbunden hat: Ein Mann, der im Licht steht, der da oben steht im Licht, in der göttlichen Schau, und von da aus versucht, uns die Zusammenhänge zu deuten.
Ein Mann, der im Licht steht
Ja, und dann sind wir halt wieder hinunter in den Nebel, und dann hat er uns im nächsten Vortrag wieder da unten abgeholt und ist wieder geduldig mit uns aufgestiegen, jedes Mal neu… Er steht nicht einfach da oben und ruft uns zu: Hallo, da oben ist es schön, komm auch herauf!, sondern er geht den Weg, er geht mit, er nimmt uns gleichsam an der Hand und geht mit uns den Weg ins Licht.
Der Mann, der im Licht steht! Und ich glaube, ich kann sagen, das ist bis heute für mich so ein Grunderlebnis, wenn ich „Vaterlesung“ mache, wie wir das so sagen bei uns, also wenn ich aus den Schriften von Pater Kentenich lese, einfach wieder neu in diese Weltschau, in seine so tiefe geistliche Weltschau eintrete, Anteil bekomme an seiner Weltschau.
Ein KZ-Häftling, der so von der Liebe Gottes sprechen kann
Von daher habe ich auch ein Wort plötzlich besser verstanden, was wir in der Bibel des Alten Testamentes so leichthin lesen: Der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs. Ja, für mich wurde da Gott eben zugänglich als der Gott Pater Kentenichs.
Wenn einer, der da eine Hölle von Dachau durchgemacht hat, der so viele Jahre Exil durchlebt hat und dann von der Liebe Gottes spricht und von der wunderbaren Führung Gottes in jedem einzelnen Leben, wer so darüber reden kann, der hat wirklich eine Gotteserfahrung gemacht, auf die ich mich verlassen kann. Eben der Gott Abrahams ist für uns der Gott Pater Kentenichs. Er hat ihn erlebt, er hat ihn erfahren und gibt uns Anteil an dieser seiner Gotteserfahrung. Und das möchte ich einfach gern sagen, das hat meinem Priesterleben durch all diese 50 Jahre Halt und Orientierung gegeben.
Es kam dann noch ein zweiter Exerzitienkurs ein Jahr später. Es kamen die großen Oktoberwochen und die Weihnachtstagungen, wo er das weitergeführt hat und wo man einfach immer neu gestaunt hat, mit welcher souveränen Schau er die neuesten Vorgänge in der Kirche, aber auch in der Gesellschaft aufgefangen hat und von dieser geistlichen Dimension her erschlossen hat.